Nicht zu Ende gedacht ASB NRW zur aktuellen Reformdebatte in der Pflege

Aktuell gibt es viele Reformvorhaben für die Pflege. In der Juni-Ausgabe 2023 der Zeitschrift Wohlfahrt  Intern kritisiert der ASB NRW, dass diese kaum weitreichende Perspektiven bieten. "Die Pflege muss von kurzfristigen Aktionen, punktuellen Veränderungen und weiteren bürokratischen Lasten verschont bleiben", fordert ASB NRW-Landesgeschäftsführer Dr. Stefan Sandbrink. "Sie braucht Vorbereitung und Unterstützung für eine echte Reform, die langfristige Lösungen bietet, um Pflege menschenwürdig und breitflächig leisten zu können."

Lesen Sie hier die aktuelle Position des ASB NRW.

ASB NRW bezieht Stellung für die Pflege und die Mitarbeiter*innen

In der Pflege kann es nicht so weitergehen wie bisher. Nach Jahrzehnten voller neuer Anforderungen, Minimal maßnahmen, Reförmchen und ande rer Flickschusterei, gekrönt von drei Jahren Pandemie, haben Träger und ihre Mitarbeitenden einen Punkt erreicht, an dem sie sich nur noch eines wünschen: zur Ruhe zu kommen. Perspektivisch wünschen sie sich endlich die nötigen Voraussetzungen, um ihre wichtige gesellschafliche
Aufgabe erfüllen zu können. Stattdessen ist von Ruhe keine Spur.

Das kurzfristige politische Denken führt zu wenig Verbesserungen. Es fördert die Bürokratie, verstärkt den Fachkräfemangel, erschwert die professionelle Pflege und bringt so langfristig die Versorgung Pflegebedürftiger insgesamt in Gefahr. Selbst gut gemeinte Ansätze sind of nicht zu Ende gedacht und schaffen neue Probleme.

Tarifbindung: Personalkosten gefährden Existenz

Vorweg: Die faire Bezahlung professionell Pflegender war längst überfällig. Ich begrüße sie ausdrücklich. Zu bemängeln ist jedoch die fehlende Refnanzierung. Personalkosten bilden den höchsten Kostenanteil jedes Pflegeunternehmens. Dieser Anteil ist mit dem Tarifreuegesetz um bis zu 30 Prozent bei den ambulanten Diensten gestiegen – und das in einer Zeit, in der die Pflege ohnehin nur gerade so kostendeckend arbeiten kann.

Pflegeanbieter mussten das Gesetz zum September 2022 umsetzen. Die nicht ausreichenden Angebote der Kassen zur Finanzierung von ambulanten Leistungen müssen Pflegeanbieter nachverhandeln. Die Verhandlungen laufen nach neun Monaten immer noch. Diese Zeit der fnanziellen Unterdeckung ist für viele Dienste nicht leistbar. Es ist nicht verwunderlich, dass bei einer Umfrage des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste von 2427 ambulanten Pflegediensten, Heimen und Tagespflegen in diesem Jahr mehr als zwei Drittel angaben, dass ihre wirtschafliche Existenz gefährdet ist.

Die Tarifindung führt ebenso dazu, dass Pflege teurer wird. Das Sachleistungsbudget für Leistungen der ambulanten Pflege wurde jedoch nicht entsprechend angehoben. Ambulante Pflegedienste und Tagespflegen beobachten eine gefährliche Entwicklung. Nachdem in den vergangenen Jahren der Bedarf stieg, berichtet inzwischen der Großteil der Anbieter, dass Pflegebedürfige Sachleistungen weniger in Anspruch nehmen. Hier
schlägt die Inflation voll zu. Es ist verständlich, wenn das Pflegegeld für Pflegebedürftige zum notwendigen Einkommen wird und es dann nicht für professionelle Unterstützung zur Verfügung steht.

Tagespflege: Angebot ausreichend finanzieren

Mit dem kommenden Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege stehen dem ersten Referentenentwurf zufolge auch für diese Legislaturperiode wieder nur punktuelle Veränderungen an. Das Defzit in der
Pflegeversicherung wird kurzzeitig überbrückt. Es sind vereinzelte Verbesserungen und Leistungserweiterungen vorgesehen. Wieder verursacht die Politik einen enormen bürokratischen Aufwand für wenig Output.

Die Tagespflege ist übrigens im neuen Gesetz erst gar nicht berücksichtigt. Dabei hat sie noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Nach der Pandemie hat sich die Angst vor Ansteckung verfestigt. Deshalb bleiben viele Seniorinnen und Senioren den Tagespflegeeinrichtungen fern. Daneben sind kurzfristige Absagen für Plätze in den Tagespflegen nicht mehr ungewöhnlich, was vermutlich ein Gewöhnungseffekt aus der Pandemie ist. Diese Fehltage werden bisher überhaupt nicht fnanziell kompensiert. Dabei bildet eine hohe Auslastungsquote die Grundlage für einen kostendeckenden Betrieb. Hier muss es dringend eine  Kompensation geben.

Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann sagte einmal: In jedem Dorf sollte eine Tagespflege entstehen. Hier muss eine ausreichende Finanzierung den politischen Willen untermauern. Über
80 Prozent der Pflegebedürfigen werden zu Hause versorgt, vor allem von Angehörigen. Dieser Anteil sinkt jedoch. Die enormen Belastungen pflegender Angehöriger sind hinreichend bekannt. Ambulante Pflegedienste
und Tagespflegen sind die Entlastungsangebote, die Familien für ihre pflegebedürfigen Verwandten am häufgsten in Anspruch nehmen. Ohne sie ist eine Aufrechterhaltung der Pflegesituation zu Hause ofmals schlicht
nicht möglich.

Arbeitsbedingungen: Mehr Zeit für Fürsorge geben

Und dann ist da ja auch noch der Fachkräfemangel. Für viele Pflegebedürfige ist es mittlerweile schwer, einen Pflegedienst mit Kapazitäten für die Versorgung zu fnden, weil bei den Diensten häufg Personal fehlt. Die Ausbildungszahlen steigen zwar, 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler brechen jedoch vorzeitig ab. Das ist eine der höchsten Abbruchquoten in Ausbildungsberufen überhaupt. Ein weiterer Anteil steigt in den ersten zehn Berufsjahren wieder aus. Viele schaffen es nicht bis zur Rente. Einige retten sich in Teilzeit, um den Belastungen standzuhalten.

Auch die Krankenstände sind hoch. Spürbar ist eine zusätzliche Auszehrung der Pflegefachkräfe nach drei Jahren Pandemie. Krankheitsbedingte Schließungen in Tagespflegen und Absagen von ambulanten Pflegeleistungen sind keine Einzelfälle mehr. Neben einer fairen Bezahlung muss die Pflege ebenso gute Arbeitsbedingungen und gesellschafliche Anerkennung bekommen, um attraktiv für künfige Pflegekräfe zu werden.

Mancher wird sagen, dass sich in den vergangenen 30 Jahren doch einiges getan hat. Ja, das hat es, aber leider hat sich die Situation nicht unbedingt immer zum Besten gewendet. Fragen Sie mal eine Pflegefachkraft, die vor 30 Jahren in der ambulanten Pflege gearbeitet hat. Sie wird Ihnen erzählen, dass sie die Zeit hatte, sich zu den Menschen zu setzen, manchmal sogar einen Kaffee mit ihnen zu trinken. Sie hat den Menschen zugehört, ihre Sorgen und Alltagsschwierigkeiten und manchmal sogar Geheimnisse anvertraut bekommen. Sie kannte den Alltag der Menschen, die seit Jahren durch körperliche Einschränkungen und ohne Kontakte von der Außenwelt abgeschnitten lebten. Und am Ende des Einsatzes bei der pflegebedürftigen Person hat die Pflegefachkraf ein einziges Dokumentationsblatt abgezeichnet.

Heutige Auszubildende reiben sich da nur ungläubig die Augen. Den Pflegefachkräfen fehlt heute die Zeit, ihre Profession wirklich ausüben zu können. Pflege ist nicht nur Waschen und Verbandswechsel. Pflege ist Fürsorge, Zuhören, Fallmanagement, Begleitung durch den Dschungel der Formulare und so vieles mehr. Wir brauchen dringend Menschen, die diese Aufgabe übernehmen. Das zeigt allein das Thema Einsamkeit, insbesondere im Alter.

Wir könnten wieder Projekte, Nachbarschaftshilfen und Ehrenamtsdienste initiieren. Doch der Aufau von Netzwerken bedeutet großen Aufwand und kostet viel Zeit. Stattdessen sollten wir die bestehenden Strukturen und Vertrauensverhältnisse in hunderttausenden Haushalten nutzen und Pflegenden eine befriedigende Arbeit ermöglichen. Andere europäische Länder haben gute Beispiele. Wir müssen nur hinschauen. Doch erst einmal muss die Pflege zur Ruhe kommen und von kurzfristigen Aktionen, gut gemeinten, punktuellen Veränderungen und weiteren bürokratischen Lasten verschont bleiben. Sie braucht Vorbereitung und Unterstützung für eine echte Reform, die langfristige Lösungen bietet, um Pflege menschenwürdig und breitflächig leisten zu können. Es reicht nicht aus, dass sich die derzeitigen Pflegedienste und Tagespflegen mit Ach und Krach über Wasser halten.

Wir leben im demografschen Wandel. Die Zahl der Pflegebedürfigen steigt jedes Jahr. Unterstützungsangebote für den größten Pflegedienst Deutschlands, die pflegenden Angehörigen, müssen deshalb nicht nur erhalten bleiben, sondern enorm ausgebaut werden. Wir brauchen eine Auflösung des eklatanten Missverhältnisses zwischen dem gesellschaflichen Aufrag der Pflege und den politisch gesetzten
Bedingungen, unter denen sie arbeitet.

Mehr zum Thema Pflege beim ASB in NRW

Ansprechpartner*in

Dr. Stefan SandbrinkLandesgeschäftsführer

Landesgeschäftsstelle
Kaiser-Wilhelm-Ring 50
50672 Köln

0221 949707-0
sandbrink(at)asb-nrw.de

Ute LudwigLeitung Stabsstelle Kommunikation und Medien

Landesgeschäftsstelle
Kaiser-Wilhelm-Ring 50
50672 Köln

0221 949707-14
ludwig(at)asb-nrw.de

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